
Experte: Zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus unterscheiden
Ob Israels Krieg im Gazastreifen eine angemessene Reaktion auf das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 ist, soll diskutiert werden. Nicht zur Diskussion steht jedoch die Existenz des Staates Israel. - Das betont der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Martin Jäggle, im Interview mit der Kooperationsredaktion der heimischen Kirchenzeitungen (Ausgaben 29. Mai/1. Juni). Kritik an der israelischen Politik sei nicht automatisch antisemitisch. "Jede Regierung braucht und verdient Kritik", so Jäggle, der sich zugleich tief besorgt über den weltweit zunehmenden Antisemitismus äußerte, auch in Österreich.
Dass Yaron Lischinsky als Mitarbeiter der israelischen Botschaft in Washington gemeinsam mit seiner Partnerin Sarah Milgrim vor wenigen Tagen auf offener Straße erschossen wurde, sei ein grausamer Beleg dafür, was Juden und Jüdinnen in aller Welt erleben und wovor Antisemitismusberichte warnten, so Jäggle: Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel sei die Judenfeindlichkeit international sprunghaft angestiegen.
Das sei auch in Wien zu beobachten, und zwar noch bevor Israel auf den Anschlag vom 7. Oktober 2023 überhaupt reagiert habe. "Das ist das eigentlich Schockierende", so Jäggle: "Als Reaktion auf den Überfall der Hamas tauchten in Wien Schmierereien mit 'Tod den Juden' auf. Der Angriff der Hamas wurde als Ermutigung betrachtet, gegen Juden vorzugehen, und so war es auch beabsichtigt."
Für den Konflikt in Nahost würden Juden und Jüdinnen in aller Welt verantwortlich gemacht, die damit nichts zu tun haben. In Wien müssten jüdische Eltern ihre Kinder aus öffentlichen Schulen nehmen, weil das Mobbing nicht mehr erträglich sei, berichtete Jäggle. Und obwohl sich einzelne Schulen, Lehrpersonen oder Universitäten um Deeskalation bemühten, fehle ein systematischer Ansatz gegen diese Dynamik.
Der von Songcontest-Gewinner JJ alias Johannes Pietsch geäußerte Wunsch, Israel möge am Songcontest 2026 in Österreich nicht teilnehmen, beinhalte zwar keinen Aufruf zur Gewalt, sei aber dennoch antijüdisch, so Jäggle. Als Kritik an der israelischen Regierung wäre diese Forderung nicht zu verstehen. Der Präsident des Koordinierungsausschusses gab zu bedenken: "Für Österreich wäre das dramatisch. Was für ein Symbol! Österreich ohne Juden. Wien ohne Juden. Das weckt schlimmste Assoziationen."
Dass sowohl die Hamas als auch das israelische Militär im Krieg um Gaza Menschenrechte verletzen, sollte aber nicht ignoriert werden, so Jäggle: "Betroffenheit und Empörung über das Leid der Palästinenser und die Kriegsfolgen sind nicht antisemitisch, sondern menschlich." Auch innerhalb Israels gebe es engagierte und heftige Kritik an der Praxis und den Zielen der Regierung Netanjahu. Die öffentliche Diskussion darüber sei notwendig und klärend.
Die weltweite Rechtsradikalisierung habe auch vor Israel nicht Halt gemacht, zeigte sich der Präsident des Koordinierungsausschusses besorgt. Große soziale Ungleichheit innerhalb Israels, die mit der sozialen Kluft in Lateinamerika vergleichbar ist, habe diese Dynamik noch verstärkt. Israel als Staat deshalb infrage zu stellen, sei dennoch in keiner Weise gerechtfertigt. Gerade wegen der antijüdischen Tendenzen brauche es diesen Zufluchtsort für Juden und Jüdinnen.
"Für komplexe Geschichten gibt es keine einfachen Lösungen", fasste Jäggle zusammen. Dennoch müsse man zu einer friedlichen Form des Zusammenlebens finden. Das sei die große Herausforderung für die Zukunft. Und das gelinge nicht mit Schwarz-Weiß-Malerei.
Quelle: kathpress